Ein Kreuzbandriss stört nachhaltig die Biomechanik und Funktionalität des Knies. Wissenschaftler haben inzwischen herausgefunden, dass es durch die funktionelle Instabilität im Knie auch zu Veränderungen im Gehirn kommt.
Inhalt
- Viele Patienten haben langfristig Probleme
- Jedes Knie hat Sensoren
- Funktionelle Instabilität im Knie nach der Ruptur
- Auch das andere Kreuzband ist betroffen
- Knieverletzung führt zu Anpassungen im Gehirn
- Durch motorisches Lernen das Verletzungsrisiko senken?
- Hohe Variabilität statt viele Wiederholungen
- Ruhe bewahren und langsam steigern
Viele Patienten haben langfristig Probleme
Ein Kreuzbandriss ist eine schwerwiegende Verletzung, die langfristig zu Problemen führen kann.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass diese Aussage gerne beschönigt wird. Aussagen wie „Lass dich operieren und du kannst wieder wie früher spielen“ vermitteln Patienten das Gefühl, dass mit einem Eingriff alles wieder beim Alten ist.
Die Realität sieht aber häufig anders aus. Nur 65 Prozent und damit gut zwei Drittel der Betroffenen können auf ihr altes Leistungsniveau zurückkehren. Knapp ein Viertel der unter 25-jährigen Sportler verletzen sich sogar ein zweites Mal am Knie. Und trotz einer Kreuzbandplastik haben viele Patienten anhaltende Knieschmerzen und funktionelle Defizite – selbst nach Abschluss der Kreuzband-Reha.[1]Ardern CL, Taylor NF, Feller JA, Webster KE. Fifty-five per cent return to competitive sport following anterior cruciate ligament reconstruction surgery: an updated systematic review and … Continue reading
Denn vielen Patienten fällt es nach der Operation schwer, die gewohnte Stabilität im Kniegelenk zu erreichen. Die Gleichgewichtsfähigkeit und die posturale Kontrolle sind vermindert. Dadurch steigt das Risiko einer erneuten Verletzung.
Posturale Kontrolle ist die Fähigkeit des Körpers, trotz Schwerkraft eine aufrechte Körperposition zu halten.
Die Kreuzband-OP allein ist also kein Garant für eine sichere Rückkehr zum Sport. Sie stellt lediglich die mechanische Stabilität wieder her. Die funktionelle Instabilität im Knie kann die Operation hingegen nicht beseitigen. Denn die Veränderungen im Gehirn nach einem Kreuzbandriss erfordern ein spezielles Training.
Jedes Knie hat Sensoren
Das Kniegelenk mit seinen Strukturen ist ein regelrechtes Wunderwerk der Natur. Das gilt auch für das Kreuzband. Denn es handelt sich nicht nur um ein einfaches Band, sondern es verfügt zusätzlich über ein stark ausgeprägtes nervales Netzwerk.
Diese nervalen Sensoren geben deinem Gehirn Rückmeldung über die Stellung des Knies und werden Propriozeptoren (gehören zu den Mechanorezeptoren) genannt.
Insgesamt machen die nervalen Strukturen 1% des vorderen Kreuzbandes aus. Davon sind 89% Mechanorezeptoren und 11% freie Nervenendigungen. Demgegenüber besitzt beispielsweise ein Patellasehnentransplantat 10% Mechanorezeptoren und 90% freie Nervenendigungen. Das vordere Kreuzband hat also viel mehr „Sensoren“, die eine Kreuzbandplastik nicht hat. Eine Kreuzbandplastik kann die Funktion des Kreuzbandes damit nie gleichwertig ersetzen.
In der neueren Literatur ist man sich einig, dass es im Kreuzband nur drei Arten von Propriozeptoren gibt:
- Ruffini-Körperchen: Übermitteln Informationen von anhaltend einwirkenden Kräften und Richtungsänderungen dieser. Sie dienen somit dem Stellungssinn des Gelenks.
- Pacini-Körperchen: Geben Informationen über die Spannung des vorderen Kreuzbandes sowie die Gelenkbewegung und signalisieren schnelle Änderungen von Kräften. Sie sind die am häufigsten vorkommenden Rezeptoren.
- Pilo-Ruffini-Körperchen: Ähnlich wie die Golgi-Sehnenorgane leiten sie Informationen über den Spannungszustand weiter. Sie kommen seltener vor, sind aber in allen Abschnitten des Kreuzbandes zu finden.
Neben den Propriozeptoren besitzt das vordere Kreuzband auch freie Nervenendigungen. Sie zählen zu den Nozirezeptoren und spielen bei Schmerzreizen eine Rolle. Für die Instabilität im Knie sind sie daher nicht relevant.
Auch Kapsel und Menisken besitzen Mechanorezeptoren. Insbesondere das Innenmeniskushinterhorn trägt erheblich zur mechanischen Stabilität des Kniegelenks bei. Wird dieses neben dem Kreuzband mitverletzt, ist die Stabilität des Knies also noch stärker beeinträchtigt.
Funktionelle Instabilität im Knie nach der Ruptur
Bei einem Kreuzbandriss kommt es zu einer mechanischen und funktionellen Instabilität im Knie. Die mechanische Instabilität ist bedingt durch das fehlende Band. Die funktionelle Instabilität entsteht wiederum durch ein neuromuskuläres Defizit, das zu einer gestörten Propriozeption führt.
Das ist auch logisch: Denn durch den Kreuzbandriss werden die Propriozeptoren zerstört und können ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen. Dein Gehirn erhält dann keine Informationen über die Stellung oder den Spannungszustand im Knie, um adäquat auf Bewegungsveränderungen zu reagieren.
Nach der Ruptur des vorderen Kreuzbandes kommt es außerdem zu einer deutlichen Verlängerung der Latenzzeit beim Hamstringreflex.
Die Latenzzeit ist die Zeit, bis der Muskel reagiert.
Die höhere Latenzzeit erklärt auch die Giving-way-Symptomatik. Da der gesamte Rückmeldeprozess zwischen Propriozeptoren, Gehirn und Muskel nach der VKB-Verletzung gestört ist, kann die Muskulatur auf bestimmte Bewegungen nicht mehr rechtzeitig reagieren. Die Folge: Das Knie gibt nach und fühlt sich an, als ob es davonschwimmt.
Auch das andere Kreuzband ist betroffen
Die Ruptur des einen Kreuzbandes hat auch Folgen für das andere Kreuzband. Die beiden Kreuzbänder stabilisieren sich im gesunden Knie gegenseitig.
Nach einem vorderen Kreuzbandriss ist allerdings die mechanische Gelenkhomöostase – also das Gleichgewicht – gestört. Fehlt das vordere Kreuzband (VKB), reduziert sich in der Folge die Spannung im hinteren Kreuzband (HKB), da ihm der Gegenspieler fehlt.
Und auch bei einer isolierten HKB-Verletzung kommt es zu morphologischen Veränderungen beim VKB.
Knieverletzung führt zu Anpassungen im Gehirn
Ein Kreuzbandriss verändert aber nicht nur die Strukturen im Knie. Aktuelle Forschungsergebnisse weisen auch auf veränderte Prozesse im Bereich der Großhirnrinde hin. Konkret haben Wissenschaftler nachgewiesen, dass es zu einer Umgestaltung komplexer sensomotorischer Netzwerke kommt. Das betrifft auch Areale, die mit der Wahrnehmung und Verarbeitung bestimmter Reize zusammenhängen.
So zeigte sich, dass es beim Vergleich zwischen verletztem und unverletztem Bein zu unterschiedlichen Verknüpfungsmustern im Gehirn kommt. Patienten mit Kreuzbandriss beziehen demnach möglicherweise vermehrt visuelle und somatosensorische, das heißt die Körperwahrnehmung betreffende, Reize ein.
Einfach ausgedrückt: Das Gehirn passt seine Strategien zur Bewegungssteuerung nach einer Kreuzbandverletzung an. Das heißt, es versucht auf andere Dinge zurückzugreifen, um eine Bewegung optimal auszuführen.
Durch motorisches Lernen das Verletzungsrisiko senken?
Langfristige funktionelle Defizite lassen sich sehr wahrscheinlich auf diese Veränderungsprozesse im Gehirn zurückführen. Bisher handelt es sich hierbei jedoch nur um Vermutungen. Mehrere Studien haben allerdings bereits die Wichtigkeit eines neuromuskulären Trainings während der Kreuzband-Reha bestätigt, um das Verletzungsrisiko zu reduzieren.
Üblicherweise werden in der Reha nach Kreuzbandriss isolierte Bewegungen trainiert. Zum Zeitpunkt der Verletzung ist ein Sportler jedoch häufig in komplexe Spielgeschehen oder Bewegungsabläufe eingebunden, die in der Reha nur wenig nachgestellt werden.
Während isolierte Übungen wichtig für den Kraftaufbau und die Ausdauer sind, sollten sie nicht die einzigen Elemente der Rehabilitation sein. Untersuchungen haben gezeigt, dass bestimmte Arten des motorischen Lernens langfristig förderlich für eine bessere Performance und intuitive Bewegungsausführung sind.
Hohe Variabilität statt viele Wiederholungen
Eine gute Reha besteht daher nicht nur aus Muskelaufbau und Ausdauertraining, sondern macht sich auch die Neuroplastizität zunutze.
Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich durch das Knüpfen von neuronalen Verbindungen an neue Einflüsse und Anforderungen anzupassen.
In der späten Phase der Reha sollte dein Training deshalb anspruchsvoller werden und komplexere Bewegungsabläufe beinhalten. Denn ein möglichst variables Training mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden kann deine Leistungsfähigkeit nachhaltig verbessern.
Ein gutes Training spricht mehrere Bewegungsaspekte an, auf die du reagieren musst. Das können beispielsweise visuelle Reize oder unterschiedliche Trainingsuntergründe (z.B. Hallenboden, Sand, Balance Pad) sein.
Im Vergleich zum klassischen Wiederholungstraining sind die Leistungen bei einem hoch variablen Training zwar schlechter, langfristig lernst du Bewegungsabläufe damit aber besser. Natürlich muss die Variabilität immer an den Trainingszustand angepasst sein. Je weniger du trainiert bist, desto einfacher solltest du starten. Bist du hingegen sehr gut trainiert, darf dein Physio dich ruhig ein bisschen mehr fordern.
Ruhe bewahren und langsam steigern
Eine Untersuchung der Universität Paderborn[2]Veränderte Prozesse im Gehirn nach Kreuzbandriss. Published 02.12.2020. Accessed 22.12.2020 zu den Auswirkungen eines Kreuzbandrisses auf das Gehirn ergab, dass bei Patienten erst sechs Monate nach der Operation eine deutliche Verbesserung der Propriozeption zu erkennen war.
Die Vermutung: Durch die operative Versorgung kommt es wieder zu einem mechanischen Gleichgewicht. Die Mechanorezeptoren können sich erholen und die neuromuskuläre Regulation sich so verbessern.
Balanceübungen mit dem Kippbrett oder auf dem Balance Pad sind unmittelbar nach der Kreuzbandriss Operation also nicht möglich. Dein Körper braucht einfach Zeit. Und auch wenn es dir nach einigen Wochen immer noch schwerfällt, auf einem Bein zu stehen, bleibe geduldig mit dir.
Du wirst schnell merken, dass du mit jedem Training besser wirst und auch die funktionelle Instabilität im Knie mit einer konsequenten Reha nachlässt.
Quellen und weiterführende Links[+]
↑1 | Ardern CL, Taylor NF, Feller JA, Webster KE. Fifty-five per cent return to competitive sport following anterior cruciate ligament reconstruction surgery: an updated systematic review and meta-analysis including aspects of physical functioning and contextual factors. Br J Sports Med. 2014; 48: 1543–1552. doi:10.1136/bjsports-2013-093398 |
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↑2 | Veränderte Prozesse im Gehirn nach Kreuzbandriss. Published 02.12.2020. Accessed 22.12.2020 |
Guten Abend,
Ihre Informationen sind sehr gut.Vielen Dank!
Ab wann darf man nach einer Kreuzbandplastik und Meniscusnaht mit de Training auf dem Galileo beginnen und welche Frequenz sollte man wählen.
Mit freundlichen Grüßen
Annette Klumpe
Hallo Annette,
vielen Dank für deine Nachricht!
Pauschal kann ich dir darauf keine Antwort geben, denn das ist immer vom individuellen Heilungsverlauf abhängig. Da sind also dein behandelnder Arzt oder Physiotherapeut gefragt, da sich die Nachbehandlungsschemata je nach Operationsmethode deutlich unterscheiden können. Grundsätzlich hast du bei einer Meniskusnaht aber häufig eine Teilbelastung über bis zu 6 Wochen. Solange du keine Vollbelastung hast, würde ich den Galileo daher auch nicht empfehlen. Wie gesagt, frage vorher auf jeden Fall deinen Arzt oder Physio. Je nach OP-Methode, Komplexität der Verletzung und Heilungsverlauf kann das Training für dich schon früher oder erst später sinnvoll sein.
Bis dahin wünsche ich dir weiterhin eine gute Besserung!
Viele Grüße
Sarah
Da ich gerade einen Hinteren-Kreuzbandriss erlitten habe, der erst noch konservativ behandelt wird: Ihre Seite hilft sehr viel, mehr zu erfahren und sich wohler und sicherer zu fühlen, die beste Seite im Netz. Sehr ausführlich!!! Jede weitere Info zu PCL wird dankbar aufgenommen 😀🙏🏽
Danke für deine lieben Worte, Kai! Ich wünsche dir alles Gute für dein Knie und deinen Heilungsverlauf. Denk dran, nicht übertreiben und nicht zu früh zu viel wollen. Ein HKB-Riss braucht Zeit, auch wenn er konservativ behandelt wird. Bei einer guten Reha stehen die Chancen aber gut, dass dein Band konservativ wieder stabil verheilt. 🙂