Vielleicht hast du vom propriozeptiven Training schon einmal gehört. Wenn nicht, wird dir der Begriff spätestens bei der Kreuzband-Reha begegnen. Denn propriozeptives Training soll die Kniegelenkstabilität erhöhen und damit unter anderem weitere Verletzungen vorbeugen.
Inhalt
- Was ist Propriozeption?
- Warum ist die Tiefenwahrnehmung wichtig?
- Propriozeptives Training nach dem Kreuzbandriss
- Vorteile des neuromuskulären Trainings
- Darauf solltest du beim propriozeptiven Training achten
- Brauche ich spezielle Geräte für das propriozeptive Training?
- Propriozeption trainieren: 3 einfache Übungen
Was ist Propriozeption?
Propriozeption, auch Tiefensensibilität, ist der sechste Sinn des Menschen. Sie vermitteln dir Informationen über Haltung, Bewegung und Lage deines Körpers im Raum. Diese Informationen erhält dein Gehirn über sogenannte Propriozeptoren, die sich in Muskeln, Bändern, Sehnen und Gelenken befinden.
Auch das Kreuzband verfügt über zahlreiche dieser Rezeptoren. Nimmst du eine bestimmte Haltung ein oder spulst einen komplexen Bewegungsablauf ab, senden die Rezeptoren Signale an dein Gehirn, damit es eventuell notwendige Befehle an die Muskulatur (z.B. eine Kontraktion der Hamstrings zum Schutz des vorderen Kreuzbandes) senden kann.
Was heißt das konkret?
Stell dich auf ein Bein. Vielleicht hast du damit schon Schwierigkeiten. Vielleicht stehst du auf einem harten Untergrund aber auch problemlos im Einbeinstand. Dann lege ein zusammengelegtes Handtuch auf den Boden und stell dich drauf. Jetzt wirst du wahrscheinlich merken, dass deine Muskeln ganz schön arbeiten müssen, damit du dein Gleichgewicht auf einem Bein halten kannst.
In diesem Moment geben die Propriozeptoren in deinem Bein deinem Gehirn Informationen über die „instabile“ Lage deines Körpers. Dein Körper reagiert nun mit Befehlen an deine Muskeln, um diese Instabilität auszugleichen.
Wackliges Knie beim Kreuzbandriss
Gerade bei einem frischen Kreuzbandriss kann es gut sein, dass dein Knie nachgibt („Giving way“) und du gar nicht mehr auf einem Bein stehen kannst. Durch die erhöhte Latenzzeit (Zeit, bis Muskel reagiert) können deine Muskeln die Instabilität im Knie nicht mehr oder erst verspätet ausgleichen.
Das liegt daran, dass die Rezeptoren im Kreuzband zerstört sind und die Informationskette zwischen Propriozeptoren, Gehirn und Muskulatur nicht mehr richtig funktioniert.
Warum ist die Tiefenwahrnehmung wichtig?
Deine Tiefensensibilität arbeitet nicht nur, wenn du einbeinig auf einem Handtuch stehst. Die Propriozeptoren leiten ständig Signale zur Lage und Haltung deines Körpers an dein Gehirn, damit du dich sicher und aufrecht bewegen kannst. Gleichzeitig hilft dein propriozeptives System dir, Hindernissen auszuweichen, Stürze abzufedern und auf wackeligen Untergründen zu laufen.
Propriozeption ist somit nicht nur für die generelle Fortbewegung wichtig, sondern auch um dich vor Verletzungen und Unfällen zu schützen. Stolperst du zum Beispiel, hilft dir deine Tiefenwahrnehmung, dein Gleichgewicht wiederzufinden und einen Sturz zu verhindern.
Wie wichtig die Tiefensensibilität ist, zeigt der Konsum von Alkohol oder Drogen. Wer zu tief ins Glas geschaut hat, hat beispielsweise schon Schwierigkeiten, einfach geradeaus zu gehen. Das liegt daran, dass Alkohol und Drogen die Verarbeitung der propriozeptiven Informationen stören und dein Körper somit nicht mehr richtig auf Lageveränderungen reagieren kann.
Propriozeptives Training nach dem Kreuzbandriss
Besonders bei Sportarten mit schnellen Richtungswechseln wie Fußball, Skifahren oder Handball ist eine gute Propriozeption gefordert. Ähnlich wie die anderen Sinne kannst du auch die Tiefenwahrnehmung durch propriozeptives Training schulen.
Mit gezielten Übungen lernt dein Körper, Reize schneller aufzunehmen und zu verarbeiten. Die Balance- und Konzentrationsübungen dienen dabei nicht nur der Prävention, sondern sind auch Teil der Rehabilitation nach einem Kreuzbandriss.
Durch die Ruptur und somit der Zerstörung der Propriozeptoren im Kreuzband kommt es zu einer dynamischen Instabilität. Ziel des propriozeptiven Trainings in der Kreuzband-Reha ist, die dynamische Stabilität im verletzten Knie wieder zu verbessern. Die Muskulatur kann somit wieder schneller und gezielter auf veränderte Gelenkstellungen reagieren und eventuell notwendige Korrekturen vornehmen.
Vorteile des neuromuskulären Trainings
Propriozeptives Training eignet sich nicht nur zur Prävention und Rehabilitation nach Verletzungen, sondern wird auch zur allgemeinen Leistungssteigerung genutzt.
Einige Vorteile, die durch propriozeptives Training entstehen, sind:
- Verbesserung der Koordination und Balance
- Steigerung der Reaktionsfähigkeit
- Verminderung von Haltungsschäden und Verspannungen
- Senkung des Sturz- und Verletzungsrisikos
- Förderung der Beweglichkeit
Das Training der Propriozeption ist damit nicht nur ideal nach Verletzungen, sondern sollte langfristig in deinem Trainingsplan integriert sein. Viel Zeit musst du dafür nicht einmal investieren. Zwei- bis dreimal die Woche jeweils 10 bis 20 Minuten reichen aus, um deine Tiefenwahrnehmung nach der Kreuzband-Reha effektiv zu trainieren.
Darauf solltest du beim propriozeptiven Training achten
Im Idealfall erklärt dir dein Physiotherapeut zu Beginn, was du beim neuromuskulären Training berücksichtigen solltest.
Das neuromuskuläre Training wird dem Koordinationstraining zugeordnet. Daher gelten die gleichen methodischen Grundsätze:
- Vom Leichten zum Schweren
- Von einfachen zu komplexen Anforderungen
- Von statischen zu dynamischen Anforderungen
- Von langsamer zu schneller Bewegungsausführung
- Von stabiler zu instabiler Unterlage
- Von großer zu kleiner Unterstützungsfläche
- Vom Üben mit offenen zum Üben mit geschlossenen Augen
Übersetzt heißt das: Du beginnst eine Übung zunächst im Einbeinstand auf festem Untergrund. Erst wenn du diese beherrschst, wird die Übung komplexer gestaltet. Etwa durch eine labile Unterlage (z.B. Balance Pad), durch das Schließen der Augen oder mit einem Sprung auf die labile Unterlage.
Mit jeder weiteren Anforderung wird die Übung komplexer und deine Tiefenwahrnehmung noch besser trainiert.
Gerade nach der Kreuzband-OP können selbst einfache Übungen eine große Herausforderung darstellen. Propriozeptives Training muss fordernd sein, sollte aber nicht überfordern. Das heißt, auch wenn Übungen nicht auf Anhieb perfekt klappen, solltest du nicht den Kopf hängen lassen, sondern konsequent weitermachen. Du wirst sehen, wie schnell du bald Dinge schaffst, die dir beim ersten Mal noch Kopfzerbrechen bereitet haben. Dennoch solltest du dich auch nicht überfordern. Ist eine Übung definitiv zu schwer, gehe eine Stufe zurück.
Da propriozeptives Training immer deine volle Konzentration erfordert, solltest du die Übungen vor deiner Kraft- oder Ausdauereinheit durchführen.
Brauche ich spezielle Geräte für das propriozeptive Training?
Spezielle Geräte brauchst du für das propriozeptive Training nicht unbedingt. Sie können im späteren Verlauf der Reha aber helfen, wenn du deine Übungen komplexer gestalten willst.
Einige beliebte Geräte für das propriozeptive Training sind:
- Balance Pad
- Balance Board
- Bosu Ball
- Trampolin
Physiotherapeutische Praxen haben alle diese Geräte üblicherweise vorhanden. Und auch Fitnessstudios sind normalerweise mit diesen ausgestattet. Du musst dir also nicht sofort ein Trampolin kaufen, wenn du keines zuhause hast.
Wenn du nicht ins Fitnessstudio gehst oder gehen willst, empfehle ich dir, zumindest ein Balance Pad zu kaufen. Mit diesem habe ich selbst sehr viel während der Reha trainiert. Zu Beginn kannst du aber auch einfach ein zusammengefaltetes Handtuch oder ein dickes Kissen nehmen.
Propriozeption trainieren: 3 einfache Übungen
Deine Propriozeption trainierst du mit Balance- und Koordinationsübungen. Die Übungen kannst du dabei vielfältig gestalten und an deinen Trainingszustand anpassen.
Drei beliebte und einfache Übungen will ich dir noch mit auf den Weg geben. Für diese brauchst du erstmal keine Geräte. Du kannst die Schwierigkeit auch schon erhöhen, wenn du die Augen schließt oder aus der Übung eine dynamische Bewegung machst.
Einbeinstand
Stell dich aufrecht hin und spanne deine Körpermitte an. Knie und Zehenspitzen zeigen nach vorne.
Tipp: Um die Körpermitte – genauer gesagt deine Core-Muskulatur – anzuspannen, sage lange und laut „Ich“. Beim ch merkst du, wie sich dein Core anspannt. Diese Spannung versuchst du während der gesamten Übung zu halten.
Hebe ein Bein ab, bis das Knie auf Hüfthöhe ist. Dein Bein bildet nun einen 90°-Winkel. Halte die Balance für 20 bis 30 Sekunden und wechsle dann das Bein.
Ist der Einbeinstand zu einfach, kannst du die Übung komplexer gestalten, indem du deine Augen schließt oder das abgehobene Bein nach außen rotierst. Eine weitere Steigerung wäre der Wechsel auf einen labilen Untergrund.
Standwaage
Starte im aufrechten Stand. Deine Körpermitte ist fest angespannt. Neige den Oberkörper nach vorne und heben gleichzeitig ein Bein an. Strecke das Bein möglichst gerade durch.
Gehe so tief wie möglich und stoppe die Bewegung spätestens, wenn Oberkörper und Bein waagerecht zum Boden sind. Dein Arme kannst du in der Taille halten, zur Seite oder nach vorne ausstrecken. Achte darauf, dass deine Hüfte zum Boden zeigt und du dich nicht zu einer Seite aufdrehst.
Tipp: Stelle dir vor, du hast zwei Strahler an deinem Becken. Diese müssen immer auf den Boden zeigen.
Ausfallschritt nach hinten
Beim sogenannten Lunge beginnst du im hüftbreiten Stand. Die Zehen bleiben während der gesamten Übung nach vorne gerichtet. Achte in der Grundstellung auf eine gute Körperspannung, bevor du dein Bein in einer geraden Linie nach hinten führst, bis das Spielbein (das Bein, das du nach hinten bewegst) knapp über dem Boden ist.
Das Knie deines Standbeins sollte in der Endposition nicht über die Zehenspitzen hinausragen, sondern in einer Linie mit deinem Sprunggelenk sein.